Wenn Technik die Wirklichkeit verändert

Personalisierte digitale Geräte sind längst Teil unseres Alltags. Doch was passiert, wenn wir zunehmend individuell gefilterte Realitäten erleben? Eine neue Studie der Universität St.Gallen analysiert, wie sich unser Weltbild dadurch verändert – und welche Verantwortung Technikgestaltung künftig übernehmen muss.
Sprachassistenten, Smartwatches, AR-Brillen: Die Liste an Geräten, die sich an unsere persönlichen Vorlieben anpassen, wird länger. Mit der zunehmenden Verbreitung von Spatial und Ubiquitous Computing entsteht eine neue Art der digitalen Realität – eine, in der jeder Mensch durch Algorithmen, Datenprofile und Kontexte eine andere Version der Welt wahrnimmt. Was nach technologischem Fortschritt klingt, hat gesellschaftliche Sprengkraft: Die geteilte Wirklichkeit droht verloren zu gehen.
Personalisierte Technik beeinflusst, was wir sehen – und glauben
Eine neue theoretische Studie der School of Computer Science (SCS-HSG) der Universität St.Gallen zeigt, wie tiefgreifend personalisierte Technologien unsere Wahrnehmung beeinflussen. Die drei Autoren – Jannis Strecker-Bischoff, Simon Mayer und Kenan Bektaş – stellen ein Modell vor, das zentrale Mechanismen beschreibt, wie digitale Systeme unsere Sicht auf die Welt formen.
Zum einen beeinflussen sie unsere Aufmerksamkeit («Perception Shaping»), zum anderen filtern sie Informationen selektiv («Reality Filtering»). Beides führt dazu, dass sich individuelle Realitätswahrnehmungen voneinander entfernen. Der dritte Mechanismus – «Shared Worldmaking» – thematisiert die Konsequenz: Unser gemeinsames Verständnis davon, was real ist, droht zu erodieren.
«Technologie beeinflusst heute weit direkter als früher, wie Menschen Wirklichkeit wahrnehmen», sagt Simon Mayer, Professor an der SCS-HSG. Die Autoren warnen: Je stärker Systeme personalisiert sind, desto grösser ist die Gefahr, dass Menschen nur noch das sehen, was zu ihnen passt – und damit den Bezug zu einer gemeinsamen Realität verlieren.
Vom Nutzen zur Gefahr: Wenn Komfort isoliert
Die Studie unterscheidet sich von empirischen Arbeiten durch ihren interdisziplinären Zugang. Sie verknüpft Erkenntnisse aus Technikforschung, Designethik, Sozialwissenschaft und Psychologie und legt damit ein theoretisches Fundament für die gesellschaftliche Diskussion über personalisierte Technologien.
Dabei wird deutlich: Die technologische Entwicklung bringt nicht nur Komfort und Effizienz, sondern verändert schleichend das soziale Gefüge. Was in sozialen Netzwerken als «Filterblase» bekannt wurde, droht nun auf breiter Ebene in unser alltägliches Erleben überzugreifen – vom Newsfeed bis zur Navigation im öffentlichen Raum.
Ein Blick auf die Industrie zeigt: Tech-Giganten wie Google, Apple und Meta investieren Milliarden in Geräte wie Smart Glasses, Head-Mounted Displays oder Gehirn-Computer-Schnittstellen. Diese Systeme sind längst Realität – nicht in spektakulären VR-Welten, sondern eingebettet in unseren Alltag. Kommunikationsexpertin Miriam Meckel fasste das im «Handelsblatt» treffend zusammen: «Die Zukunft ist ambient, nicht immersiv.»
Gesellschaftliche Leitplanken fehlen
Trotz dieser Entwicklungen fehlt es an klaren Regeln. Bestehende Gesetzgebungen wie der EU AI Act greifen zu kurz – sie wurden nicht für eine Welt entworfen, in der Realität durch Technik individualisiert wird. Die Studienautoren fordern deshalb eine neue Ethik des Technologiedesigns. Personalisierte Systeme müssten so gestaltet werden, dass sie nicht nur individuell funktionieren, sondern auch sozial verbindend wirken.
Jannis Strecker-Bischoff betont: «Unsere Arbeit bietet eine Grundlage für alle, die diese Systeme gestalten, regulieren oder kritisch begleiten wollen.» Es brauche eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie Technik unser Miteinander künftig prägen soll – und wie ein verantwortungsvoller Umgang mit personalisierten Realitäten aussieht.
Verantwortung für die Realität von morgen
Die Studie macht klar: Digitale Technologien gestalten heute nicht nur den Zugang zu Information, sondern das Verständnis von Wirklichkeit selbst. Damit wird auch ihre Gestaltung zur gesellschaftlichen Aufgabe. Gefragt sind Entwickler, Designer und Entscheidungsträger, die nicht nur funktional denken, sondern auch ethisch. Denn die Frage ist nicht, ob Technik unser Weltbild verändert – sondern wie wir damit umgehen.
Das Paper mit dem Titel «Towards Societally Beneficial Personalized Realities: A Conceptual Foundation for Responsible Ubiquitous Personalization Systems» steht online frei zum Download zur Verfügung. Fachleute der ACM Designing Interactive Systems Conference 2025 haben die Arbeit mit dem Honorable Mention Award ausgezeichnet.
Text: pd/red