Strukturen behindern Digitalisierung
In der Schweiz steht seit der Corona-Pandemie das Faxgerät sinnbildlich für die Versäumnisse bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Mitunter erschweren auch strukturelle Umstände ein Vorwärtskommen in diesem Bereich. Abhilfe schaffen könnten Tools wie der «Digital Radar», der von der HSG mitentwickelt wurde.
Der Digital Radar ermöglicht es, einen Überblick des Digitalisierungsstandes von Spitälern zu erhalten und deren Handlungsbedarf aufzuzeigen. Krankenhäuser, bei denen dieses Tool im Einsatz ist, erhalten nach dem Digital-Check eine standardisierte und umfassende Auswertung über ein individuelles Dashboard. Hier können sie ihren Punktestand mit dem nationalen Durchschnitt und ausgewählten Peer Groups vergleichen. In deutschen Krankenhäusern ist der Digital Radar bereits flächendeckend im Einsatz. In der Schweiz leider (noch) nicht.
Kommunikations- sowie Versorgungsbrüche mildern
Bedauerlich, findet auch Alexander Geissler, Professor an der School of Medicine (MED HSG) der Universität St.Gallen. Er und sein Team haben den Digital Radar mitentwickelt. «Fortschritte im Bereich Digitalisierung könnten viele positive Auswirkungen auf das Gesundheitswesen haben. Sie helfen insbesondere, Kommunikations- sowie Versorgungsbrüche zu mildern und führen zu einer höheren Patientensicherheit», sagt Geissler.
Bei Klinikketten oder Ärztenetzwerken, die gemeinsame digitale Plattformen nutzen, hätten bereits entsprechende Effizienzsteigerungen festgestellt werden können. Anders als in Deutschland gibt es in der Schweiz aber noch keine nationalen Initiativen, welche das Gesundheitswesen digital auf Vordermann bringen wollen. Nicht zuletzt, weil strukturelle Umstände dies verhindern.
Schlechte oder fehlende Vernetzung
Wie in vielen anderen Ländern ist auch das Gesundheitssystem in der Schweiz sehr fragmentiert. Dies hat zur Folge, dass meist eine Vielzahl von Behandlern in die Versorgung eines Patienten involviert ist und Patienten oftmals nicht aus einer Hand (d. h. integriert) versorgt werden.
«Die unterschiedlichen Akteure sind dazu meist schlecht oder gar nicht miteinander vernetzt, sodass es zu Kommunikations- und Versorgungsbrüchen kommt. Würde es uns also gelingen, die Barrieren zwischen den beteiligten Akteuren strukturell abzubauen oder mit Technologie zu überwinden, müssten die Patienten weniger Behandlungsbrüche hinnehmen», ist Alexander Geissler überzeugt.
Darüber hinaus sind auch einzelne Leistungserbringer (z. B. Spitäler) intern schlecht vernetzt. Ursache dafür sind eine Vielzahl von Systemen, die keine Informationen untereinander austauschen können, d. h. wenig interoperabel sind. «Das führt zu mangelhaften Versorgungsprozessen und kann mitunter die Patientensicherheit gefährden», warnt Geissler. «Diese Facetten hat uns die Pandemie nochmals deutlich vor Augen geführt.»
In der Schweiz (noch) nicht im Einsatz
Zurzeit wird mit dem Digital Radar der aktuelle Stand der Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern ausgewertet. 2023 sollen dann in einer zweiten Erhebung die Auswirkungen der Investitionen gemessen werden. Da das Tool als offenes Instrument angelegt ist, könnten auch in der Schweiz problemlos vergleichbare Messung durchgeführt werden. Doch bislang scheint bei den Verantwortlichen kein Interesse vorhanden zu sein. «Bisher sind entsprechende Stellen nicht an uns herangetreten. Wir wären in jedem Fall sehr an einem Schweizer Digital Radar interessiert», sagt Alexander Geissler.
Innovation aus der Ostschweiz
Auch wenn bei der Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens noch einiges im Argen liegt, so gibt es auch Lichtblicke – beispielsweise im Bereich der Telemedizin, wo Ostschweizer Unternehmen wie Online Doctor ganz vorne mitmischen – und das nicht erst seit Corona. Das 2016 gegründete St.Galler Teledermatologie-Unternehmen verzeichnete im Februar 2022 die erste Übernahme in seiner Firmengeschichte und kaufte mit A.S.S.I.S.T den führenden Entwickler für KI im Bereich der Dermatologie.
«Online Doctor ist ein sehr gutes Bespiel für eine zukunftsweisende Patienten-Arzt-Kommunikation, die zunächst bei nicht dringlichen helfen kann, die Patienten zügig zu orientieren und durch das Gesundheitssystem zu schleusen. Das wird in vielen medizinischen Bereichen die Zukunft sein. Insbesondere unter dem Einbezug von KI wird es noch besser möglich sein, eine individuelle Risikoeinschätzung für den Patienten über solche Anwendungen vorzunehmen», ist Alexander Geissler überzeugt.
Wichtig sei dabei, immer den Nutzen solcher Anwendungen für den Patienten in den Vordergrund zu stellen. Dieser könne gemäss Alexander Geissler bisher längst nicht für jede Anwendung dargestellt werden. «Eine Unterstützung der Politik, zum Beispiel im Rahmen einer potenziellen Kostenübernahme vom digitalen Gesundheitsanwendungen im Sinne einer digitalen Pille, könnte diese Entwicklungen jedoch weiter vorantreiben», ist der HSG Professor überzeugt.
Text: Patrick Stämpfli