«KI ist ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte»
Das Thema Künstliche Intelligenz ist derzeit in aller Munde. Was mit ihr heute und in Zukunft möglich ist, wo Gefahren lauern und ob eine Regulierung von KI sinnvoll ist, erklärt Guido Schuster, Professor und Direktor am Interdisciplinary Center for Artificial Intelligence der OST – Ostschweizer Fachhochschule.
Guido Schuster, die Entwicklung von KI hat in den vergangenen Monaten einen riesigen Sprung gemacht. Weshalb geht das derzeit so schnell?
Dies ist der ChatGPT-Effekt, seit letzten November wird in den Medien sehr intensiv über KI berichtet. Somit ist die wahrgenommene Geschwindigkeit sehr hoch. Ein Grund für diese intensive Berichterstattung ist sicherlich, dass mit ChatGPT die Öffentlichkeit zum ersten Mal Zugriff auf eine beeindruckende KI erhalten hat. Die eigentliche Geschwindigkeit der KI-Entwicklung hat sich nicht verändert, die war schon seit langem sehr hoch.
Dass KI beispielsweise beim Online-Shopping, Übersetzungstools, Autos, Smartphones oder Industrierobotern zum Einsatz kommt, dürfte den meisten Menschen unterdessen klar sein. Gibt es auch Einsatzgebiete, die vielleicht weniger bekannt sind?
In der medizinischen Diagnose, bei der Entdeckung von neuen Medikamenten, in der Vergabe von Krediten, beim Sichten von Lebensläufen, bei der automatischen Analyse/Abänderung von Verträgen, die Liste lässt sich fast beliebig fortsetzen. Es gibt keinen Bereich mehr, in welchem digitalen Daten wichtig sind, wo KI heute nicht ein fundamentales Werkzeug darstellt. In einem gewissen Sinne ist KI das Schweizer Sackmesser der Informatik – immer und überall zu gebrauchen. Genau aus diesem Grund wird über die ITBO an der OST Künstliche Intelligenz in jedem Studiengang angeboten.
Wo könnte KI künftig noch zum Einsatz kommen, wo sie es heute noch nicht tut?
Zum Beispiel als automatische Echtzeitübersetzung zwischen zwei Personen, welche nicht die gleiche Sprache sprechen, als virtuelle Freunde für einsame Menschen, als automatische Versicherungsbroker, als adaptive Verkehrssteuerung usw. Für all diese Ideen gibt es heute schon Forschungsprojekte.
Wie wir wissen, ist KI in Bezug auf Effizienz, Konstanz und Schnelligkeit meist besser als wir Menschen. Mit Empathie, also einem typisch menschlichen Verhalten, hat sie allerdings Mühe. Wird sie das künftig können?
Es gibt keinen Grund, warum dies nicht möglich sein sollte. Dafür lernt sie Empathie mittels Machine Learning, indem viele Beispiele von empathischen Konversationen gezeigt werden. Dann entwickelt die KI eine Intuition für empathisches Verhalten. Man kann heute von ChatGPT verlangen, einen Antwortbrief in einem empathischen Ton zu schreiben.
Die rasend schnelle Entwicklung von KI bereitet vielen Menschen Sorgen. Der weltbekannte Historiker und Bestsellerautor Yuval Harari sagte vor einiger Zeit in einem Interview mit der Sonntagszeitung, dass künstliche Intelligenz gefährlicher sei als der Klimawandel. Teilen Sie diese Ansicht?
Die teile ich nicht, da der Klimawandel ein physikalischer Effekt ist, welcher von sehr vielen unkoordinierten Akteuren beeinflusst wird. Dies ist einer der Hauptgründe, warum es der Welt so schwerfällt, etwas gegen den Klimawandel zu tun. Die Fähigkeit in der Zukunft eine KI zu entwickeln, welche der Menschheit gefährlich werden könnte, besitzen nur wenige Akteure. Somit ist KI näher an einer atomaren Waffe als am Klimawandel, und diese Bedrohung hat die Welt seit 1945 erfolgreich unter Kontrolle. Alles, was für die Kontrolle von Atomwaffen funktioniert hat, sollte auch für KI in adaptierter Form funktionieren.
Harari ist kein Techniker, im Gegensatz zu Geoffrey Hinton, der auch «Godfather of AI» genannt wird. Nach seinem Abgang bei Google warnt auch er vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Jemand wie er muss es doch wissen, oder?
Das ein mächtiges Werkzeug wie KI missbraucht werden kann, ist unbestritten. Daher braucht es eine weltweite Regulierung von KI, wie diese von Experten vorgeschlagen wird. Dennoch erwarte ich, dass die Menschheit viel mehr Nutzen von KI haben wird als Schaden.
In welchen Bereichen könnte das sein?
Zum Beispiel gibt es ein Antibiotikum «Halicin», welches 2019 von einer KI entdeckt wurde. Halicin benutzt einen bis dato unbekannten Mechanismus, um Bakterien zu töten. Es wird vermutet, dass sich Bakterien auf diesen Mechanismus nicht adaptieren können und somit könnte Halicin viele Menschenleben retten, wenn andere Antibiotika nicht mehr funktionieren.
Klar ist, dass Künstliche Intelligenz ein riesiges Potenzial hat und eine echte Erleichterung sein kann. Klar ist aber auch, dass sie missbraucht werden kann, zum Beispiel für die Verbreitung von Fake News oder für die Manipulation von Videos und Bildern. Wo lauern sonst noch Gefahren bzw. Risiken?
KI ist ein mächtiges Werkzeug, welches zum Guten wie auch zum Bösen benutzt werden kann. Wenn ein verwirrter Mensch nur ein Sackmesser hat, dann ist der maximal anrichtbare Schaden limitiert. Sobald man dieser Person eine Schusswaffe gibt, ist der maximale Schaden wesentlich grösser. Somit ist die Regulierung von KI, ähnlich wie die Regulierung von Waffen, ein vernünftiger Weg, um eine mächtige KI nicht in die falschen Hände geraten zu lassen.
Und in den richtigen Händen kann sie viel Gutes bewirken …
Genau, wie zum Beispiel AlphaFold, welches dreidimensionale Proteinstrukturen basierend auf Aminosäuresequenzen vorhersagen kann. Dies war ein seit über 50 Jahren ungelöstes Problem. Jetzt besteht berechtigte Hoffnung, dass dieser Durchbruch zu sehr mächtigen Medikamenten führen wird.
Es gibt bereits Stimmen, die eine Entwicklungspause fordern, um die rasante Weiterentwicklung der KI zu regulieren und somit auch dem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Halten Sie das für sinnvoll?
Grundsätzlich ist es eine gute Idee, die weltweit geltenden KI-Regeln zuerst auszuarbeiten und dann KI weiterzuentwickeln. Dies ist das Konzept hinter der geforderten Entwicklungspause. Leider ist es in der heutigen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Weltordnung etwas einfach zu glauben, dass wenn so eine Entwicklungspause im Westen eingelegt würde, sich der Rest der Welt auch freiwillig daran beteiligen würde. Somit bleibt realistischerweise nur die Option, möglichst gute KI zu entwickeln, damit man eine guten Verhandlungsposition hat, wenn die Welt bereit ist, KI-Regeln auszuarbeiten und umzusetzen.
Wie wird sich KI und unser Umgang mit ihr in den nächsten Jahren verändern?
KI wird sich nach und nach in unsere täglichen digitalen Werkzeuge, Medien und die Mobilität mehr und mehr integrieren und die Produktivität signifikant erhöhen. Dies passt gut mit dem demographischen Wandel überein, da der Fachkräftemangel in der nahen Zukunft nur grösser werden wird. Somit ist eine Steigerung der Produktivität etwas Gutes für die Gesellschaft. Dies wird vor allem in den Berufen passieren, welche einen Grossteil ihrer Arbeit an einem Computer verrichten. Die Handwerksberufe werden keinen solchen Produktivitätsschub erleben, da die Robotik wesentlich weniger fortgeschritten ist als die KI. Es wird aber wie immer langsamer gehen, als dass der momentane Hype dies jetzt erwarten lässt. Aus meiner Sicht wird der Impact von KI auf die kurze Sicht stark überschätzt, dafür aber auf die lange Sicht signifikant unterschätzt. KI ist ein fundamentaler Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte.
Interview: Patrick Stämpfli
Bild: Thomas Hary