«Die Komplexität im Verteilnetz nimmt zu»

Die Art und Weise, wie wir Strom erzeugen und verbrauchen, ändert sich. Daraus ergeben sich neue Anforderungen ans Stromnetz. Jürg Solenthaler, Leiter Geschäftsbereich Netz und Mitglied der Geschäftsleitung der St.Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke AG (SAK) erklärt, welche Herausforderungen sich daraus ergeben.

Jürg Solenthaler, welche Massnahmen wurden in den letzten Jahren ergriffen, um das Ostschweizer Stromnetz auf die zukünftigen Anforderungen vorzubereiten?
Bereits in den Jahren 2009 bis 2014 hat die SAK eine «Zielnetzplanung» für ihr gesamtes Verteilnetz gemacht und daraus die zukünftigen Netzstandards definiert. Damit konnten die Anforderungen an die Versorgungssicherheit als Rahmenbedingung für die Netzplanung festgelegt werden. In der Zielnetzplanung wurde die gesamte Netzstruktur komplett überprüft, analysiert und gemäss den zukünftigen Bedürfnissen entwickelt. Die Umsetzung erfolgt nun laufend im Rahmen der Netzinvestitionsplanung. Bei wachsenden Anteilen an dezentraler Einspeisung, Elektromobilität und Speichertechnologien gewinnt diese Planung zunehmend an Gewicht.

Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Dezentralisierung?
Durch die vielen dezentralen zugebauten Energieerzeugungsanlagen wird die Komplexität im Verteilnetz zunehmen. Eine technische Herausforderung sind dabei vor allem die wechselnden fluktuierenden Lastflüsse. Um die Verbraucher zuverlässig und normenkonform mit Strom zu versorgen und den erzeugten Strom abführen zu können muss das Verteilnetz angepasst werden. Bezüglich des Zubaus von dezentralen Photovoltaikanlagen hat die SAK bereits vor einigen Jahren verschiedene Zubau-Szenarien sowie deren Auswirkungen auf ihr Niederspannungsnetz untersucht.

Was haben diese Untersuchungen ergeben?
Sie haben gezeigt, dass kein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht und die SAK Netzinfrastruktur – nebst punktuell notwendigen Netzverstärkungen – leistungsfähig genug ist. Aufgrund der geopolitischen Lage mit ihren Auswirkungen auf die Energiepreise und -märkte, hat sich der Zubau von Photovoltaikanlagen aber stark beschleunigt. Aktuell ist die SAK deshalb gefordert. Um die Photovoltaikanlagen der Kunden/Produzenten ans Netz anschliessen, und dabei die Normen und die Spannungsqualität einhalten zu können, sind zunehmend Netzverstärkungen notwendig. Insbesondere in den Niederspannungsnetzen sind die Herausforderungen für die Verteilnetzbetreiber gross. Aus diesem Grund erstellt die SAK aktuell eine Zielnetzplanung auf der Netzebene 7 deren Erkenntnisse dann in die Netzstandards einfliessen werden.

Mit zu dieser Dezentralisierung tragen vor allem erneuerbare Energien bei. Wie hat sich ihr Anteil im Netz in den letzten Jahren entwickelt?
Der Anteil an erzeugter Stromproduktion mit erneuerbaren Energien im Versorgungsgebiet der SAK hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Per Ende 2022 waren dies rund 4100 Photovoltaik-Anlagen mit einer installierten Gesamtleistung von rund 70 Megawatt (MW).

Als Ersatz für die fossilen Energieträger steht, neben der Wasserkraft, insbesondere die Photovoltaik im Vordergrund. Damit dies gelingt ist aber ein massiver Zubau von entsprechenden Anlagen nötig. Wie ist die SAK diesbezüglich aktuell aufgestellt?
Der Anteil an der Strombeschaffung für die grundversorgten SAK-Kunden aus Rücklieferungen von im Netz installierten Kundenanlagen (Wasser und Photovoltaik-Anlagen) beträgt rund 7 Prozent (42 Gigawattstunden Der Anteil durch eigene Kraftwerke oder Beteiligungen (Wasserkraftwerke, Photovoltaik) liegt bei rund 15 Prozent (93 Gigawattstunden). Und am Markt werden rund 78 Prozent beschafft (475 Gigawattstunden).

Wie eingangs erwähnt, hat auch die starke Zunahme der Elektromobilität einen Einfluss auf das Stromnetz. Wie gross ist dieser?
Mit der Elektrifizierung der Mobilität steigt nicht nur der Strombedarf, sondern wird auch das Verteilnetz stärker belastet. Entscheidend dabei ist das Ladeverhalten der Kunden. Hauptherausforderung für die SAK als Verteilnetzbetreiber ist eine hohe Bezugsleistung mit hoher Gleichzeitigkeit – die Lösung eine Staffelung der Ladeleistung «so schnell wie nötig – nicht so schnell wie möglich» laden. Vor allem bei gleichzeitiger Ladung vieler Fahrzeuge mit hoher Leistung können hohe Leistungsspitzen und Netzbelastungen oder sogar Überbelastungen entstehen, insbesondere auf der Niederspannungs-Netzebene.

Welche Massnahmen sind notwendig, um eine Überlastung zu verhindern?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Einerseits der Ausbau der Stromnetze, andererseits ein netzoptimiertes Lademanagement mit intelligenten Steuerungen mit Leistungsbegrenzungen bzw. zeitlicher Steuerung/Verschiebung der Lastspitzen oder eine Kombination mit Eigenstromproduktion.

Was macht die SAK derzeit, um das Netzt zu verstärken?
Im Rahmen verschiedener Diplom- und Projektarbeiten hat die SAK die zukünftigen Anforderungen an ihre Netzinfrastruktur aufgrund der Entwicklung der Elektromobilität untersucht. Netzsimulationen in ländlichen und vorstädtischen Gebieten mit verschieden hohem Mobilitätsanteil haben gezeigt, dass aufgrund der aktuellen Entwicklung bis 2035 keine generellen Netzverstärkungen notwendig sind. Trotzdem hat die SAK erste Massnahmen umgesetzt, wie beispielsweise die Erfassung sämtlicher Ladestationen im Netzinformationssystem für eine periodische Überprüfung der Lastentwicklung.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der zukünftigen Entwicklung des Ostschweizer Stromnetzes?
Die Digitalisierung spielt auch bei der SAK und der zukünftigen Weiterentwicklung des Verteilnetzes eine grosse Rolle und wurde in den letzten Jahren auch im Netzbereich stetig ausgebaut. Einerseits bei den technischen Infrastrukturen wie beispielsweise Schutz- und Leittechnik aber auch durch den Einsatz prozessunterstützender Systeme für medienbruchfreie mobile Prozesse und Unterstützung unserer Monteure bei der täglichen Arbeit. Immer wichtiger werden für die Planung und den Netzbetrieb relevante Netzdaten, Informationen und Applikationen für Netzmonitoring und Prognosen um beispielsweise Netzengpässe systemunterstützt möglichst automatisiert und frühzeitig erkennen zu können. Die SAK hat deshalb in den letzten Jahren ihr Netzinformationssystem (NIS) umfassend digitalisiert.

Was macht und kann dieses Netzinformationssystem?
Beispielsweise überprüft es die Vorgaben für Sicherungsauslösungen mittels automatisierter Analyse der Nullungsbedingungen. Weiter erfolgt täglich pro Netzanschluss eine automatisierte Berechnung der maximalen restlichen Einspeiseleistung für eine Photovoltaikanlage sowie der maximal möglichen Anlaufströme motorischer Verbraucher. Mit dem dynamischen Netzmonitoring werden Lastflüsse und Betriebsmittelzustände ermittelt und damit deren Aus- und Überlastung überprüft. Zudem trägt auch der Einsatz mobiler Tablets beim Montage- und Betriebspersonal mit Zugriff auf sämtliche relevanten Betriebsmitteldaten – inklusive medienbruchfreier papierloser Auftragsabwicklung in Echtzeit –zu weiteren Prozessoptimierungen und Effizienzsteigerungen bei, minimieren Fehlerquellen und verbessern die Datenqualität.

Interview: Patrick Stämpfli
Bild: zVg